Zurück zur Stechuhr für alle?
Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden: Arbeitgeber müssen die Arbeitszeit erfassen. Was bedeutet das für Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Überstunden und Homeoffice?
Auch wenn es für viele ohnehin noch immer zum Arbeitsalltag dazugehört: In einer Zeit, in der die Arbeit immer mehr vom Homeoffice oder in hybriden Modellen zumindest mit einzelnen Tagen im Büro und anderen Tagen vom Schreibtisch zuhause aus stattfindet, kommt die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts sehr überraschend und daher auch mit viel öffentlicher Aufmerksamkeit.
Viele Arbeitgeber hatten noch gar keine Zeit, sich von den neu aufgestellten Hürden des Nachweisgesetzes zu erholen – geschweige denn, diese auch gesetzeskonform umzusetzen, um die drohenden Bußgelder noch vermeiden zu können – legt das Bundesarbeitsgericht in Sachen Bürokratie und landestypischem Hang zum Verwaltungsmehraufwand nach.
Mit der Pressemitteilung 35/22 – Einführung elektronischer Zeiterfassung – Initiativrecht des Betriebsrats vom 19.09.2022 teilt das BAG mit:
„Der Arbeitgeber ist nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann.„
Was hat das BAG entschieden?
In vielen Artikeln zur Entscheidung des BAG wird bereits die Pflicht zur Einführung einer elektronischen Stechuhr herausgelesen und angekündigt. Um eine solche ging es nämlich bei der der Pressemitteilung zugrunde liegenden Entscheidung des BAG. Diese wollte ein Betriebsrat einer stationären Wohneinrichtung bei dem Arbeitgeber durchsetzen.
Das Bundesarbeitsgericht hat diesen Antrag zwar zurückgewiesen – jedoch nur und jetzt Achtung: weil sich die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung bereits aus dem Gesetz ergebe (und insofern diesbezüglich kein gesondertes Mitbestimmungsrecht für den Betriebsrat bestünde). Und genau hierin liegt die Sprengkraft der Entscheidung, denn in diesen klaren und unmissverständlichen Worten war von einer solchen Pflicht des Arbeitgebers bislang weder aus Gesetzestext, noch aus Rechtsprechung etwas bekannt.

Wenn man bedenkt, wie allgemein gehalten die Mitteilung des Bundesarbeitsgerichts einerseits ist und welche weitreichenden Folgen in wirtschaftlicher und organisatorischer Hinsicht damit andererseits verbunden sind oder jedenfalls sein könnten, ist der Aufruhr tatsächlich nachvollziehbar.
Gleichwohl findet sich in der Pressemitteilung selbst kein Wort seitens des Bundesarbeitsgerichts dazu, dass von spätestens nun an alle Arbeitgeber in Deutschland über eine elektronische Stechuhr zur Erfassung der Arbeitszeit aller Arbeitnehmer verfügen müssen. Vielleicht wird die Veröffentlichung der vollständigen Urteilsgründe dies enthalten.
Wahrscheinlich ist dies jedoch nicht. Schließlich ist es nicht Aufgabe und auch nicht Kompetenz des BAG, dem Arbeitgeber die Mittel vorzuschreiben, mit welchen er die ihm obliegenden gesetzlichen Verpflichtungen umsetzt. Wohl auch genau aus diesem Grund hat das BAG eine Pflicht zur elektronischen Stechuhr o.ä. in seine Pressemitteilung nicht aufgenommen, sondern lediglich die gesetzliche Pflicht als solche konstatiert.
Doch was genau bedeutet das nun für Arbeitgeber und Arbeitnehmer?
Klar ist, dass mit dieser Entscheidung die Pflicht aller Arbeitgeber zur Arbeitszeiterfassung für ihre Arbeitnehmer zementiert wurde. In den Mitteln zur Umsetzung der Pflicht sind die Arbeitgeber jedoch wie immer weitestgehend frei, solange sie ihr ordnungsgemäß nachkommen. Die elektronische Stechuhr ist dabei nur eine Möglichkeit, vor allem aber ist sie wohl auch die teuerste und aufwendigste und damit vermutlich auch die unbeliebteste Variante für Arbeitgeber. Doch die denkbaren Alternativen sehen da nicht viel attraktiver aus. Sicher werden wir auch in Zukunft nicht erleben, dass der Abteilungsleiter mit Zettel und Stift zu Beginn und Ende der Arbeitsschicht seine Kollegen mit dem Strichzettel erfasst oder mit einem telefonischen Gruß über Anfang und Ende der täglichen Arbeitszeit informiert und zu deren Antritt lädt.
Viel wahrscheinlicher und leichter umzusetzen ist wohl, dass Arbeitgeber vorerst die Pflicht zur Erfassung der persönlichen Arbeitszeit auf die Arbeitnehmer abwälzen werden und sich die Daten dann lediglich zuschicken lassen. Damit erfüllen Arbeitgeber jedenfalls formal bereits die Anforderungen des BAG hinsichtlich der geforderten systematischen Erfassung soweit sie bislang bekannt sind. Das Prinzip wird in vergleichbarer Weise schließlich gerade erfolgreich von den Finanzämtern bei der Erhebung der neuen Grundsteuer exerziert. Und zweifelsohne werden entsprechende ausgeklügeltere und vor allem kostengünstige Apps auch nicht lange auf sich warten lassen und bald auf sämtlichen Handys und Computern der Republik zu finden sein. Wer also noch auf der Suche nach einer Geschäftsidee ist…
Aber warum ist das überhaupt von Bedeutung?
Zum einen geht es bei der genauen Erfassung der Arbeitszeit um die Einhaltung des Arbeitsschutzes, dabei insbesondere des Arbeitszeitgesetzes. Im Weiteren betrifft es aber auch die Abrechnung von Arbeits- sowie Überstunden. Nur wenn diese auch ordnungsgemäß festgehalten und dokumentiert sind, kann der Arbeitnehmer diese rechtssicher von seinem Arbeitgeber ausgeglichen verlangen. Genau diese Pflicht soll – nun vor allem auch explizit – nach dem Willen und der Entscheidung des BAG der Arbeitgeber haben und ausdrücklich nicht der Arbeitnehmer. Was passiert jedoch, wenn der Arbeitgeber dieser Pflicht nicht nachkommt? Zwar wäre es denkbar, dass dann Schadensersatzansprüche für den Arbeitnehmer entstehen oder Bußgelder verhängt werden, wie dies beim neuen Nachweisgesetz bereits der Fall ist. Eine gesetzliche Regelung dazu fehlt aber bislang. Vermutlich wird daher eher eine Beweislastumkehr zu Lasten des Arbeitgebers die Folge sein, sodass dann nicht der Arbeitnehmer strittiges Arbeitsentgelt oder Überstunden nachweisen muss, sondern stattdessen der Arbeitgeber nachweisen muss, ob und wie viele tatsächlich erbracht wurden.
Ein Problem bleibt dabei aber weiterhin, dass der Arbeitnehmer in der Regel die erfolgte Anordnung der Überstunden durch den Arbeitgeber nachweisen muss.
Kurz zusammengefasst
Dramatische Auswirkungen sind von der Entscheidung des BAG voraussichtlich nicht zu erwarten. Gesetzesgrundlagen für Schadensersatzansprüche fehlen bislang ebenso wie gesetzlich geregelte Bußgeldandrohungen für Verstöße gegen die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung durch den Arbeitgeber und auch für eine denkbare Beweislastumkehr fehlt es bislang an entsprechender Rechtsprechung durch die Arbeitsgerichte oder gar das Bundesarbeitsgericht. Es bleibt also spannend.
Pressemitteilung des BAG vom 13.09.2022
Der Arbeitgeber ist nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann. Aufgrund dieser gesetzlichen Pflicht kann der Betriebsrat die Einführung eines Systems der (elektronischen) Arbeitszeiterfassung im Betrieb nicht mithilfe der Einigungsstelle erzwingen. Ein entsprechendes Mitbestimmungsrecht nach § 87 BetrVG besteht nur, wenn und soweit die betriebliche Angelegenheit nicht schon gesetzlich geregelt ist.
Der antragstellende Betriebsrat und die Arbeitgeberinnen, die eine vollstationäre Wohneinrichtung als gemeinsamen Betrieb unterhalten, schlossen im Jahr 2018 eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit. Zeitgleich verhandelten sie über eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeiterfassung. Eine Einigung hierüber kam nicht zustande. Auf Antrag des Betriebsrats setzte das Arbeitsgericht eine Einigungsstelle zum Thema „Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Einführung und Anwendung einer elektronischen Zeiterfassung“ ein. Nachdem die Arbeitgeberinnen deren Zuständigkeit gerügt hatten, leitete der Betriebsrat dieses Beschlussverfahren ein. Er hat die Feststellung begehrt, dass ihm ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems zusteht.
Das Landesarbeitsgericht hat dem Antrag des Betriebsrats stattgegeben. Die gegen diese Entscheidung gerichtete Rechtsbeschwerde der Arbeitgeberinnen hatte vor dem Ersten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Der Betriebsrat hat nach § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG in sozialen Angelegenheiten nur mitzubestimmen, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht. Bei unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG* ist der Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Dies schließt ein – ggfs. mithilfe der Einigungsstelle durchsetzbares – Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung eines Systems der Arbeitszeiterfassung aus.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 13. September 2022 – 1 ABR 22/21 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Hamm, Beschluss vom 27. Juli 2021 – 7 TaBV 79/20 –
*§ 3 ArbSchG lautet auszugsweise:
§ 3 Grundpflichten des Arbeitgebers
(1) 1Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. 2Er hat die Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und erforderlichenfalls sich ändernden Gegebenheiten anzupassen. …
(2) Zur Planung und Durchführung der Maßnahmen nach Absatz 1 hat der Arbeitgeber unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten
1. für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen …